Transkript: #1 Textilgeschichte

Jeanne Devos

Grüezi und herzlich willkommen im Rehetobel. Ich bin Jeanne Devos und zusammen mit Marcel Anderwert werde ich Sie durch die spannungsvolle Textilgeschichte dieses Dorfes begleiten. Bestimmt ist Ihnen bereits aufgefallen, dass es eine liebenswerte Ausstrahlung hat. Traditionelle Stickerhäuser säumen die gewundenen Strassen und in vereinzelten ehemaligen Fabrikgebäuden glaubt man den Klang von Maschinen zu hören.

Seit frühester Kindheit bin ich dem Charme des Dorfes erlegen. Meine Urgrossmutter hat hier gelebt und während meiner Ferien «Grosi» habe ich diesen besonderen Ort schätzen und lieben gelernt. Und auch du, Marcel, kennst Rehetobel wie deine Westentasche, stimmt’s?

Marcel Anderwert

Ich bin in Rehetobel aufgewachsen. Mein Urgrossvater hat die Strumpffabrik Tobler & Co als Ersatz für seine in Krise geratene Stickerei aufgebaut, an seine drei Söhne weitergegeben und meine Eltern haben sie als Familien AG unter der Bezeichnung Strickerei/Näherei bis heute weitergeführt. Auf unserem Spaziergang werden wir noch davon hören. Heute lebe ich im Raum Zürich, habe aber meine Wurzeln nicht vergessen.

Kommen Sie also mit uns auf einen einstündigen Spaziergang und erfahren Sie, wie Weberei und Stickerei in den letzten zwei Jahrhunderten das Dorf geprägt haben.

Aber setzen Sie sich doch zuerst auf die Bank hier. Jeanne, wie hat das in Rehetobel eigentlich angefangen mit der textilen Industrie?

Jeanne Devos

Der Beginn der textilen Beschäftigung im Gebiet von Rehetobel findet sich im 16. Jahrhundert. Spinnen von Flachs und Weben von Leinwand wurden damals zur saisonalen Ergänzungsbeschäftigung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in den umliegenden Weilern. Die Leinwand wurde den Textilhändlern der Stadt St. Gallen abgeliefert.

Ein typisches Beispiel eines Weberhauses aus dieser Zeit ist im Weiler Robach noch erhalten. Es ist 1550 erbaut worden und hat einen besonderen Namen. Marcel, du kennst die Geschichte.

Marcel Anderwert

Ja, dazu gibt es die Legende von Frieda Fässler, einer späteren Wirtin in diesem Haus. Wegen der mächtigen Holzdielen, die nur aus einem Urwald stammen konnten, nannte sie das Haus «Urwaldhaus». Seit 1805 wird darin das Restaurant «Bären» betrieben. Seit Frieda Fässler nannte man das Restaurant bis heute auch «Urwaldhaus». Sie selber wirtete von 1927 bis 1966. Man erzählt sich, dass die jungen «Rechtöbler» im Urwaldhaus zum Tanzen gingen.

Frieda Fässler besass eines der ersten Grammophone. Da gab es wohl Lieder wie «Veronika, der Lenz ist da» oder «Ich bin von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt».

Kurzer Musikschnipsel «Veronika, der Lenz ist da»

Heute ist jene Musik verstummt, aber «der Bären» ist als beliebtes Wirtshaus in seiner ursprünglichen Ausstattung erhalten geblieben. Ein Besuch lohnt sich.

Jeanne Devos

Nach der Flachsweberei gelangte um 1750 allmählich die Baumwolle in unsere Gegend. Da man mit den alten Webstühlen sowohl Leinen wie auch Baumwolle weben konnte, machte man von dieser doppelten Möglichkeit je nach Wirtschaftslage regen Gebrauch. Die Baumwollindustrie entwickelte sich schnell, so dass sie in Kürze zum wichtigsten Erwerbszweig der Ostschweiz wurde.

Im 19. Jahrhundert kam schliesslich die Stickerei nach Rehetobel. Viele Heimarbeiter wandten sich dem Sticken auf der Handstickmaschine zu, weil damit mehr Geld zu verdienen war als mit dem Weben. Man begann im Dorf wie auch in Weilern und abgelegenen Höfen die dortigen Webstühle durch Stickmaschinen zu ersetzen. Die Grösse dieser Handstickmaschinen bedingte allerdings, dass die Webkeller durch Vertiefung die nötige Höhe erhielten, die Häuser oft mit einem Anbau versehen oder sogar Neubauten mit entsprechend grossen Sticklokalen gebaut werden mussten.

Eine neue, technische Revolution bahnte sich später mit der Erfindung und Entwicklung der Schifflistickmaschine an. Der beschleunigte Stickvorgang erbrachte gegenüber der Handstickmaschine eine bis zu zehnfache Leistungssteigerung. Diese Maschinen konnten auch von Einzelstickern zu Hause betrieben werden, weshalb sie rasch eine grosse Verbreitung fanden.

Der Sticker Walter Sonderegger Senior kennt diese Entwicklung in Rehetobel genauestens:

Beim Handsticken bewegte der Sticker die Maschine mit einer Kurbel und mit der anderen Hand führte er den Pantographen. Aus der Handstickerei hat sich das Schifflisticken entwickelt. Eine Handstickmaschine war etwa 3 Meter lang und die Schifflistickmaschinen massen 9 Meter. Diese Maschinen mit den Fadenschiffli funktionierten mit Strom. Das Stickmuster musste der Sticker ebenfalls noch selbst auf dem Musterbrett mit dem Pantographen nachfahren. Die Maschine gab den Takt vor, und der Sticker war genötigt, sehr konzentriert zu arbeiten. So hat es dann auch bessere und schlechtere Sticker gegeben. Den Stickautomat des Systems Saurer entwickelte Hyppolyt Saurer 1910. Bei ihm wurde der Pantograph durch ein Lochkartenband ersetzt. Auf diese Weise wurden die Muster auf Lochkartenrollen umgesetzt, welche die Maschine nun steuerten. Dazu hat man die Punchmaschine erfunden. Der Puncher ist dem Muster nachgefahren und musste bei jedem Stich abdrücken. Gleichzeitig hat die Maschine die Lochkarte gestanzt. Das Lochkartenband übernahm nun die Aufgabe des Stickers, das Muster möglichst gekonnt auf das Tuch zu übertragen. Das ist für mich noch heute eine der grössten Erfindungen: einen Automaten zu entwickeln, der mit der Lochkarte wunderschöne Muster hat sticken können! Jener Ingenieur hat etwas Grossartiges vollbracht.

Dank dieser technischen Entwicklungen erfreute sich die Stickerei in Rehetobel bald grosser Beliebtheit. So überrascht es nicht, dass nach 1900 der grösste Anteil der Beschäftigten aus Textilarbeiterinnen und -arbeitern bestand. Bis 1920 lebten die Menschen in der Gemeinde hauptsächlich vom Erwerb aus der textilen Heimarbeit. Die enorme Beschäftigung in der Textilindustrie hat dazu geführt, dass neue Strassen und Bauten entstanden sind. Das hat das Gesicht des Dorfes massgebend geprägt. Doch genug Geschichte. Begeben wir uns auf einen Spaziergang, sehen vor Ort, was von diesem Erbe geblieben ist und lauschen den Erinnerungen von Rehetoblern und Rehetoblerinnen an diese vergangenen Zeiten.

Marcel Anderwert

Auf dem gepflasterten Trottoirabschnitt befinden sich zu Ihren Füssen zwei Dolendeckel. Hören Sie das Wasser unter Ihren Füssen?

Es ist der Holderenbach, der ursprünglich in einem Graben verlaufen ist, der das Dorf und den Weiler Hüseren voneinander getrennt hat. Dieser Graben wurde aufgeschüttet und der Bach in eine Röhre gelegt, so dass die alte Landstrasse, auf der Sie jetzt stehen und die Häuser links vor Ihnen gebaut werden konnten; später auch die neue Hauptstrasse, das Schwimmbad und das Gemeindezentrum. Gehen Sie jetzt der alten Dorfstrasse entlang zu Standort 2, bei der ehemaligen Remise und erfahren Sie, was die Charakteristiken der Weber-, der Sticker- und der Fabrikantenhäuser sind.