Transkript: #6 Stickereibauten Tobler
Jeanne Devos
Vor Ihnen steht ein zweigeschossiges Haus mit einer Dachzinne. Auf der Südseite ragt das Haus noch drei Stockwerke den Hang hinunter. Von unten sieht es wie ein Hochhaus aus, wohl das erste und einzige im Appenzellerland. Wegen seiner optischen Auffälligkeit nannte man es «Kamelhof». Bis heute ist ihm dieser Name geblieben. Marcel, es gibt Legenden, wie es zu diesem Namen gekommen ist.
Marcel Anderwert
Mein Grossvater erzählte uns Kindern folgende Geschichte: Weil das Haus so hoch ist, erinnerte es die Leute an den langen Hals einer Giraffe. Da sie mit exotischen Tieren nicht so vertraut waren, verwechselten sie die Giraffe mit dem Kamel und nannten das Haus eben «Kamelhof». Die wohl glaubhaftere Geschichte ist die: Eine Zeitlang wurden im Haus Strümpfe aus Kunstseide gestrickt. Damit diese Fäden in den Maschinen gut gelaufen sind, war in den Maschinensälen eine hohe Luftfeuchtigkeit erforderlich. Zusammen mit der Hitze im Sommer war das Arbeiten in diesen Sälen fast unerträglich. Die Arbeiter rissen deshalb oft die Fenster auf, um sich etwas abzukühlen. Damit sank natürlich auch die Luftfeuchtigkeit und die Seidenfäden waren zum Verarbeiten nicht mehr gleich geschmeidig. Das hat den Patron gestört. Wenn er jeweils den Maschinensaal betrat und die Fenster offen waren, habe er regelmässig laut gerufen: «Welches Kamel hat die Fenster wieder offengelassen?» Jeanne Devos Schauen Sie jetzt die Schulstrasse hinunter. Im Haus rechts war in den beiden Untergeschossen ebenfalls eine Textilfabrik. Sie erkennen das an den hohen Untergeschossen. Die Schulstrasse wurde um 1900 gebaut. Kurze Zeit später ist die südlich der Strasse gelegene, ziemlich einheitliche Bebauung entstanden. Drei Häuser sind identisch mit denjenigen, die wir schon an der Oberstrasse kennen gelernt haben. Sie sind alle für Sticker mit einem Lokal im Untergeschoss und einer Wohnung in den Obergeschossen gebaut worden. Wie waren eigentlich die Arbeitszeiten in diesen Stickerhäusern? Der ehemalige Sticker Walter Sonderegger Senior weiss davon zu erzählen:
Ganz früher haben diese Handsticker bis Samstagabend gearbeitet, meistens bis in die Nacht hinein. Um achtzehn Uhr hat jedenfalls niemand Feierabend gemacht, es sei denn, er hatte noch als Bauer zu tun und musste in den Stall. Bei meinem Vater war es so, dass manchmal in kurzer Zeit etwas abgeliefert werden musste. Dann gab es sehr lange Arbeitstage. Auch in der heutigen Zeit hat sich bei uns nicht viel geändert, plötzlich ist für einen Auftrag höchste Eile geboten. Früher haben wir auch bis in alle Nacht gearbeitet, meine Frau und ich. In der ersten Zeit mussten wir enorm viel leisten, damit wir etwas verdienten. Manchmal habe ich bis nachts um zwei gestickt und dann ist meine Frau in die Bude gekommen und hat die Maschinen bis am Morgen laufen lassen. Die Arbeitszeiten waren lang. Früher hat man von einigen Stickern erzählt, sie würden «Blaumachen». Sie stickten dann am Montag nicht, trieben sich in den Wirtschaften herum und tranken. Darum hat man «Blau machen» gesagt. Es ist auch vorgekommen, dass der Fädlerbub, der dem Sticker half, am Montagmorgen die Läden im Sticklokal öffnen musste, obwohl niemand am Sticken war. So nahm der Fergger an, der Sticker sei am Arbeiten, was aber ja dann nicht der Fall war!
Und auch der Landwirt Oskar Egli kennt die Arbeitszeiten der Sticker:
Sie waren alle selbstständig gewesen und konnten ihre Arbeitszeit einteilen, wie sie wollten. Daher haben einige länger gearbeitet und die andern weniger lang. In guten Zeiten verdienten die fleissigen Sticker recht gut im Gegensatz zu jenen, die oft erst am Mittwoch wieder zu sticken begannen und teilweise dann auch ihre Arbeit verloren.
Marcel Anderwert
Nun begeben Sie sich weiter die Schulstrasse hinunter, am Ende der rechterhand liegenden Garagen biegen Sie in den Fahrweg ein und gehen bis zur Standorttafel 7. Das war bis zur Fertigstellung des neuen Gebäudes der Hauptsitz der Firma Tobler & Co. AG meiner Grosseltern und Eltern.