Transkript: #4 Jugendstilhaus
Jeanne Devos
Beim Standort 4 angekommen, schauen wir zurück in die Zeit von 1880 bis 1930. Im Sägholz, unterhalb des Dorfes betrieb Konrad Schläpfer eine Ferggerei. Diesen altertümlich-klingenden Begriff lassen wir uns am besten von Walter Sonderegger erklären. Sein Sohn betreibt noch heute die modern eingerichtete Stickerei im Gebiet Nasen an der Strasse nach Wald. Walter, wer waren denn diese Fergger genau?
Die Aufträge kamen von den Fabrikanten und den Exporthäusern in der Stadt St. Gallen. Die Fergger, also die Zwischenhändler, gingen jeweils mittwochs in die Stadt an die Stickereibörse, holten die Aufträge ein und verteilten sie dann den hiesigen Stickern.
Der Fergger arbeitete also meist im Auftrag von Textilhändlern als Bindeglied zwischen Handel und Handwerk. Er sorgte für den Transport der Rohstoffe zu den Heimarbeitern, kontrollierte deren Arbeit, bezahlte ihre Löhne, sammelte die Zwischen- oder Fertigprodukte wieder ein und lieferte sie an die Händler in die Stadt zurück. Leider war es oft so, dass die Sticker am Ende dieser Kette kaum mehr etwas verdienten:
Der Sticker selber stand nie gut da, den besseren Verdienst hatten die Fergger und Fabrikanten. In den guten Zeiten, wo die Sticker Häuser bauen konnten, verdienten sie genug. Aber es gab welche, die es übertrieben und am Schluss wurden sie doch wieder arm. Aus dem Rheintal hat man erzählt – dort wurde ja auch gestickt wie verrückt – habe es Fergger und Fabrikanten gegeben, welche ihre Zigarren mit Noten anzündeten. Aber viele verarmten wieder. Über den Tagesverdienst hat mir mein Vater erzählt, man könne von morgens bis abends wie verrückt an der Arbeit sein und habe am Schluss trotzdem einen schlechten Lohn.
Im Sägholz betrieb Konrad Schläpfer also eine solche Ferggerei und baute sich auch eine eigene Stickereifabrik auf. Heute dient sie als Traktorenmuseum. Von 1902 bis 1909 war er auch Gemeindehauptmann. 1911 liess er für seine eigenen Wohnzwecke die «Villa Erika», vor der sie jetzt stehen, im damals modernen Jugendstil erbauen. Seine Enkelin Heidy Rohner hat das Haus bis vor wenigen Jahren noch selbst bewohnt. Es ist das einzige repräsentative Haus aus der Textilzeit in Rehetobel geblieben. Da im Dorf fast ausschliesslich produziert und kaum Fernhandel betrieben wurde, fehlen die Stickereipaläste oder Villen der Grossindustriellen. Die «Villa Erika» ist in ihrem originalen Zustand erhalten geblieben und befindet sich heute im Besitz der Genossenschaft Alters- und Pflegeheim Krone. Da die Stickereiindustrie stark von wirtschaftlichen Schwankungen abhängig war, versuchten einige Fabrikanten und Fergger soziale Verantwortung im Dorf zu übernehmen. Sie finanzierten kleinere Bauprojekte wie Strassen- oder Kanalbauten, um den immer wieder arbeitslos gewordenen Stickern ein Auskommen zu garantieren. Viel Infrastruktur ist in Rehetobel in Form von sogenannten Notstandsarbeiten entstanden, so zum Beispiel auch die grosse Turnhalle. Der Fabrikant Tobler, um ein Beispiel zu nennen, ging sogar einen Schritt weiter. Seine Enkelin Klara Streiff erinnert sich lebhaft an die humanitäre Einstellung ihres Grossvaters:
In Grub besass er während einer Zeit noch eine Fabrik, als die Produktion gut lief, wo an Wirkmaschinen gearbeitet wurde. Über den Fabrikräumen befand sich eine Wohnung. Diese Wohnung hatte er an eine Familie mit fünf Kindern vermietet. Als der Mann eines Tages tot nach Hause gebracht wurde, liess Hauptmann Tobler die Frau, eine Hebamme, mit den Kindern weiter darin wohnen, solange sie bleiben wollte, ohne dass sie einen Mietzins bezahlen mussten. Ohne diese Hilfe hätte die Frau nicht gewusst, wie sie mit ihren vielen Kindern über die Runde käme. Eine der Töchter erzählte es mir später. Damals gab es noch keine Witwenrente oder eine andere finanzielle Unterstützung. Man konnte auch nicht auf der Gemeinde darum bitten.
Anfang des 20. Jahrhunderts dominierte die Stickerei in Rehetobel und löste einen Bauboom aus. Neue Quartiere entstanden, und zwischen 1900 und 1910 wurden 70 neue Wohnhäuser erstellt. Das Dorf erhielt so sein unverkennbares Gesicht als Textildorf. Die Schattenseite des wirtschaftlichen Aufschwungs war die vielerorts zu beobachtende, grosse Kinderarbeit. Erna Fischer, die Tochter eines Stickers, kann aus dieser dunklen Zeit erzählen:
Die Mutter, aufgewachsen im Kaien, besuchte am Vormittag im Schulhaus Dorf den Unterricht und fädelte am Nachmittag im Dorf bei einem Handsticker. Wenn sie abends nach Hause kam, musste sie noch für die ganze Familie die Socken und Strümpfe flicken. Sie hatte wenig Zeit, Kind zu sein oder zu spielen. Aber das war bei uns nicht so, wir hatten Zeit zum Spielen. - Gesetze gab es schon zur Zeit meiner Mutter. Die Kinderarbeit war verboten. Aber die Sticker hatten das ganz geschickt angestellt, erzählte mir die Mutter. Wenn der Kontrolleur im Dorf unterwegs war, verbreitete sich die Nachricht schnell unter den Stickern. An jenem Nachmittag wurden die Kinder dann zur Frau in die Wohnung hinaufgeschickt. Und sobald der Kontrolleur weggegangen war, mussten sie wieder ins Sticklokal hinunter an die Arbeit. So wurde das Gesetz umgangen.
Erst mit späteren Fabrikgesetzen gegen Mitte des 20. Jahrhunderts konnte der Kinderarbeit in Rehetobel definitiv der Riegel vorgeschoben werden. Wenn Sie jetzt auf der Oberstrasse weiter gehen, kommen Sie beim Haus Nr. 12 zum Standort 5.